Wir stehen vor dem Lombardi Biwak und schauen uns an. Hierbleiben oder weitergehen? Wir sind spät dran. Bei Tageslicht erreichen wir die Hütte auf gar keinen Fall mehr. Die Biwakoption hatten wir für den Fall der Fälle einkalkuliert. Wir sind uns einig. Wir bleiben…

Manche Dinge ergeben sich fast von alleine. Ziele für Bergtouren zum Beispiel. Zumindest, wenn man noch nicht auf jedem Gipfel gestanden hat. In unserem Fall war das ungefähr so: „Wir sollten mal wieder eine Bergtour machen!“, „Sehr gerne, wohin?“, „Ortler?“, „OK!“.

Kurze Zeit später… „Der Hintergrat sieht ja mal schick aus!“

Und so kam es, dass wir zu dritt an einem Freitag Ende September 2012 gegen 16:00 Uhr auf dem Parkplatz in Sulden standen und letzte Hand an die Rucksäcke legten. Den ganzen Tag über herrschte Kaiserwetter und die Prognose für die nächsten Tage verhieß gute Bedingungen in den Bergen. Ein kurz aufblitzender Gedanke, die ersten Höhenmeter mit einem der Lifte anzugehen, wurde schnell verworfen. Schließlich waren wir gerade vom Niederrhein angereist, einer Gegend, die man vermutlich als letztes mit großen Höhen in Verbindung bringt. Wir wollten uns die minimale Chance auf ein wenig Akklimatisierung nicht entgehen lassen.

Erklärtes Tagesziel war die Hintergrathütte. Nach guten zwei Stunden erreicht man diesen auf 2661m gelegenen Ausgangspunkt für den Hintergrat. Die Hütte ist alles andere als voll – wir bekommen zu dritt ein 8-Bett Zimmer zugewiesen und bleiben für die Nacht alleine dort. Entsprechend entspannt geht es beim Abendessen zu. Kurz vor 22:00 Uhr verlischt das Licht. Hüttenruhe.

Um 4:30 Uhr ist es mit jener Hüttenruhe vorbei. Es wird geweckt und das Frühstück steht bereit. Wir sind nicht die einzigen, die den Hintergrat gehen wollen, aber die letzten, die von der Hütte loskommen. Beim Essen hörten wir noch den Wind um die Hütte pfeifen und nach den ersten Schritten vor der Tür wurde klar, dass wir viel zu dick angezogen waren. Trotz sternenklarem Himmel war es erstaunlich warm.

Der Hintergrat gilt als Klassiker unter den Überschreitungen in den Ostalpen. Trittsicherheit und alpine Erfahrung sind gefordert, denn zum Teil geht es sehr luftig zu auf dem Grat. Kletterstellen bis zum dritten Grad und zwei Kernstellen im vierten Grad warten auf die Bergsteiger. Die Schwierigkeiten gehen auf dem Hintergrat erst los, wenn der Ortler bereits zum Greifen nah erscheint und man bereits einige Höhenmeter in den Beinen hat.

Doch zunächst geht es links vom Grat durch ein Geröllfeld langsam aufwärts. Die Stirnlampen der anderen Bergsteiger zeigen uns, wo wir noch lang müssen. Gelegentlich weisen Steinmännchen den Weg. Die aufgehende Sonne lässt die schneebedeckten Flanken der Königsspitze golden leuchten. Ich liebe diese Momente.

Schließlich geht es hoch auf den Grat. Allerdings zog es sich nun auch zu, so dass die Tiefenblicke ins Tal verwehrt blieben. Aber das ist wohl mein Schicksal – bisher hatte ich noch auf jedem Grat schlechte Sicht. Nun folgt man erst einmal dem Grat bis zu einem Schneefeld. Wir beschließen, Pause zu machen und noch ein wenig die Sonne zu genießen, während wir uns gegenseitig einreden, dass die Sicht jeden Moment besser werden würde.

Sie wurde es nicht…

Nach dem Firnfeld und weiterer Gratkraxelei erreicht man schließlich das Signalköpfle, eine markante Felsnadel auf 3725m Höhe. Von hier an wird es knackig. An dieser Stelle hören wir noch die Stimmen der Teams vor uns aus dem Dunst. Sie scheinen nicht weit weg zu sein.

Bis hierhin waren wir noch gut unterwegs und hatten nicht das Gefühl, allzu langsam zu sein. Doch mit steigenden Schwierigkeiten werden wir vorsichtiger und sichern lieber einmal mehr. Das kostet Zeit. Dietmar steigt größtenteils souverän vor und sichert Margot und mich im Nachstieg.

Und es gibt schon einiges zu sichern. Die knackigen Stellen sind durch Haken, Ketten oder Schlingen abgesichert. Trotzdem versichern wir uns immer wieder des Weges anhand der Topo. Die Sicht wird einfach nicht besser. Ab und zu reißt die Suppe auf und erlaubt weite Blicke ins Tal. Doch diese Momente sind selten.

So langsam reift die Erkenntnis, dass wir ein kleines Zeitproblem bekommen können. Aber noch sind wir in dem Stadium „Wird eng, passt aber noch“.

Das zweite Schneefeld hat mir gefallen, gerade hoch zum Felsen, ca. 35-40 Grad steil. Die Spur ist nicht zu übersehen. Wie eine Treppe erscheinen die Trittstufen der Vorgänger. Stairway to Heaven. Oben warten noch einige Kletterstellen inklusive dem zweiten 4er. Die Topo sagt, nun ist’s vorbei mit den Schwierigkeiten. Noch ein paar Meter und wir stehen auf dem Gipfel vom König Ortler, dem höchsten Berg Südtirols.

Das Gipfelkreuz ist vor kurzer Zeit den Berg herunter gefallen, als Ersatz steht nun ein schlichtes Holzkreuz auf dem Gipfel. Der Hintergrat scheint im Windschatten des Ortlers gelegen zu haben, denn oben weht uns eine steife Brise um die Nase. Wir sind nun wirklich spät dran. Es ist mittlerweile 16:00 Uhr und wir haben gute 10 Stunden bis auf den Gipfel benötigt.

Ich gebe mir zwei Minuten, um den Geocache auf dem Ortler zu suchen. Mehr Zeit mag ich nicht spendieren. Die Dose finde ich nicht. Leider. Doch die Zeit drängt. Noch glauben wir, es bis zur Payerhütte zu schaffen.

Der Abstieg erfolgt über den Normalweg. Über ein teilweise steiles Firnfeld geht es mit Steigeisen abwärts. Wie ein Adlerhorst klebt die Payerhütte in der Ferne am Felsen. Wir entscheiden uns, erst einmal zum Lombardi Biwak zu gehen und dort zu entscheiden, wie es weiter geht. Und nicht zuletzt liegt bei dem Biwak noch ein Geocache. Es wäre doch auch zu blöd, so ganz ohne Fund vom Ortler abzusteigen.

Die Biwakschachtel (3316m) sieht aus wie eine Blechbüchse, die mit Stahlseilen gesichert auf dem Felsen klebt. Ein Blick hinein enthüllt zweckmäßige Kargheit – Drahtgestelle, staubige Matratzen und Decken unbestimmten Alters. Wir beraten uns und sind schnell einig, dass es sicherer ist, zu biwakieren.

Dietmar ruft auf der Payerhütte an und vermeldet, dass wir im Biwak bleiben. Die Nachricht wird dankbar aufgenommen – man rechnete bereits mit einer sehr späten Ankunft unsererseits auf der Hütte. Margot kümmert sich derweil um das Nest und stapelt Matten und Decken. Mein Beitrag zum Biwakleben basiert auf meiner latenten Furcht vor dem Hungerast. Meine Fresstüte aus dem Rucksack ruft erst erstauntes Kopfschütteln hervor und sorgt dann für ein geradezu opulentes Abendbrot und Frühstück angesichts der Rahmenbedingungen.

Die Nacht in der Schachtel hat jeder von uns wohl unterschiedlich erlebt. Mein dünner Schlafsack ging gar nicht mehr zu, bei den Klamotten, die ich anhatte. Das ist aber auch kein Wunder, da das Ding sowieso recht eng ist. Margots Nacht war wohl weniger kuschlig – die Decken entwickelten ein Eigenleben und folgten dann zwangsläufig der Schwerkraft.

In der Nacht tobte ein kräftiger Sturm, der ordentlich am Biwak rüttelte. Der Wind heulte, die Verankerungen klapperten und die Blechverkleidung schepperte. Zwischendurch ging irgendwo mit lauten Krachen eine Lawine nieder. Abends hatten wir noch befürchtet, bereits um fünf Uhr morgens frierend Gewehr bei Fuß zu stehen. Aufgestanden sind wir nach sieben, als die Sonne schon helle Flecken in die Schachtel gemalt hat. Zumindest ich habe besser geschlafen als befürchtet.

Bevor wir uns nun an den Abstieg wagten, mussten noch zwei Logbücher signiert werden – das vom Cache und das Hüttenbuch. Geocachers Paradise!

Vom Biwak kann man sich normalerweise auf den Gletscher abseilen. Erst müssen wir die Stelle suchen und dann stellen wir fest, dass der Landeplatz im Moment auch nicht so optimal liegt. Wir gehen also den Weg oberhalb des Biwaks zurück zum eigentlichen Abstieg. Durch das Bärenloch gehen wir angeseilt. Die offenen Spalten sind schon recht beeindruckend.

Es folgen noch einige Kletterstellen im dritten Grad, die entweder durch Bohrhaken oder gar Ketten gut versichert sind. Hier überholen uns ein paar Bergführer mit ihren Kunden am kurzen Seil. Kein Wunder, dass die so fix sind.

Als wir über einen Felsriegel schauen, liegt die Payerhütte wie auf einem Silbertablett vor uns. Doch hier ist immer noch höchste Konzentration nötig. Ein schmaler Pfad ist total vereist und ein Ausrutscher würde hier eine unangenehme Schlitterpartie durch ein gerölldurchsetztes Firnfeld zur Folge haben. Und das vor den Augen der Leute, die auf der Terrasse der Payerhütte in der Sonne sitzen.

Dann haben wir es geschafft und genießen kalte Getränke auf der Terrasse der Payerhütte. Unten im Tal verdeckt eine dicke Wolkenschicht die Ortschaften, doch hier oben herrscht eitel Sonnenschein. Wir haben wirklich den einzigen Tag mit schlechter Sicht erwischt gestern. Aber egal, wir sitzen hier, wir waren oben und nun genießen wir die Sonne.

Dietmar hat einen brillanten Plan. Er schlägt vor, die Sonne auf der Terrasse zu genießen, solange es geht und dann hinabsteigen nach Sulden. Es gäbe dort eine Pension mit einem leckeren drei Gänge Menü zum Abendessen. Niemand von uns hat diesem Plan widersprochen. Und so endet der Tag, der in der Biwakschachtel begann, später mit Sauna, opulentem Abendessen und leckerem Rotwein. Welch ein Gegensatz.

Fazit

Den Ortler über den Hintergrat zu besteigen ist schon eine besondere Tour. Ich bin stolz auf uns, dass wir es geschafft haben. Auch wenn wir unheimlich langsam unterwegs gewesen sind. Im Rückblick wissen wir, wo die Zeit geblieben ist. Von 0 auf 100 oder vom Flachland auf einen Ostalpengrat in einem Rutsch ist vielleicht auch ein wenig verrückt. Ein paar Eingehtouren zur Stärkung des Selbstbewusstseins wäre sicher nicht schlecht gewesen.

Dafür waren wir jederzeit Herr der Lage und haben uns nicht unnötig in Gefahr begeben. Wir wussten, dass das Biwak dort steht und haben angesichts der fortgeschrittenen Zeit Gebrauch davon gemacht.

Wir hatten Spass während der Tour, sind heil hoch und vor allem auch wieder herunter gekommen. Also alles richtig gemacht.

Danke an dieser Stelle noch mal Margot und Dietmar für die wunderschöne Tour. Von mir aus gerne wieder. Aber ihr wisst ja, wenn ihr auf einem Grat etwas sehen wollt, müsst ihr ohne mich gehen…

Informationen zur Tour