Etwas zögerlich kreist der Mauszeiger um den Bestätigungsbutton. Soll ich oder soll ich nicht? Alle haben gesagt, beim ersten Mal sind die Chancen sowieso gering auf einen Startplatz beim Berlin Marathon. Aber Lust hätte ich ja schon auf die 42,195 Kilometer. Also zack, rein mit meinem Namen in die Lostrommel.

Ein paar Wochen später: Herzlichen Glückwunsch, du bist dabei! Ach du Schreck, jetzt geht es wohl los – das Abenteuer Marathon.

Vorbereitung

Vor der Distanz habe ich riesigen Respekt. Ein spontaner Testlauf im März endet kurz vorm Hungerast und mit Krämpfen in den Beinen. Immerhin bin ich über die 30 Kilometer gekommen, wenn auch mehr schlecht, als recht.

Also nehme ich mir vor, die Sache ernst zu nehmen. Ich lese Bücher zum Thema, stelle meine Ernährung (ein wenig) um und verschlinge Erfahrungsberichte anderer Marathonies. Bei Trainingsläufen stellt sich immer wieder Kopfkino ein und ich sehe mich durchs Brandenburger Tor laufen. Alleine das sorgt für einen erhöhten Puls.

Natürlich mache ich mir auch Gedanken über eine mögliche Zielzeit. Wenn ich gefragt werde, antworte ich, dass ich drei Ziele habe. Eines, welches ich öffentlich heraus posaune (ankommen und überleben), eines, welches ich im Freundeskreis verkünde (unter 4 Stunden) und eines, welches ich niemandem verraten habe. Die Laufprognose der Garmin Fenix schmeichelt mir, Runalyze ist da schon vorsichtiger angesichts fehlender langer Läufe.  Ich entscheide mich für einen 10-Wochen Trainingsplan für eine Zielzeit von 3:45 Stunden.

Das Training verläuft ganz gut, trotz Dienstreisen und dergleichen. Nur im Urlaub bekomme ich das Pensum nicht zusammen. Zu heiss, zu viel Action am Tag und keine Ahnung von passenden Laufstrecken am Urlaubsort. Egal, zuhause steige ich wieder in den Trainingsplan ein und tue, als wäre nichts gewesen. Endlich kommen auch die langen Läufe und es häufen sich Kilometer an. Doch zwischen 35 und 42,195 Kilometern liegen halt auch die, die weh tun könnten. Und so reift langsam die Hoffnung, die Strecke packen zu können, irgendwie. Zur Not unter Aktivierung der Wettkampfreserven. Apropos Wettkampf, der Halbmarathon drei Wochen vor Berlin endet mit einer neuen persönlichen Bestzeit von 01:42:38.

In den letzten Wochen vor dem Marathon steigt die Nervosität und die Paranoia. Jetzt nur nicht mehr krank werden. Die Kinder fangen an, zu schniefen. Ich habe Stress auf Arbeit. Keine guten Voraussetzungen. Allerdings fühle ich mich auch wie ein richtiger Läufer und werfe mit Begriffen wie „Tapering“ um mich.

Freitag

Gegen Mittag mache ich Feierabend, da ich mich nicht mehr richtig konzentrieren kann. Mein Kopf scheint schon in Berlin zu sein. Mit der Bahn bringen wir den Körper hinterher. Als wir abends in der Jugendherberge ankamen, lungern bereits Läufer in der Lobby herum, gut zu erkennen an den weiss-blauen Armbändern.

Samstag

Jetzt will ich auch mein Armbändchen haben. Und die Startnummer. Die viel gerühmte Organisation des Berlin Marathons zeigt sich bereits hier. Ruckizucki habe ich alles zusammen und wir können mit Frau und Kindern noch über die Messe schlendern. Wir kaufen ein paar Kleinigkeiten und ich hole mein bestelltes Finisher-Shirt ab. Jetzt muss ich wohl da durch.

Respekt vor der Ziel-Zeit

Respekt vor der Ziel-Zeit

Wir treffen Wulf, mit dem ich mich per Messenger während des Trainings ausgetauscht habe und meine Schwester nebst Neffen, die eigens für uns angereist sind. Anschliessend zieht es uns an die Marathonstrecke, wo sich am Nachmittag die Skater messen.

Gegen Abend folgt das übliche Programm. Kohlenhydrate schaufeln ist angesagt. Mit Schwägerin und Familie treffen wir uns beim Italiener. Ich bestelle anderthalb Portionen Spaghetti.

Die Nacht ist doof. Gegen Mitternacht wache ich auf, die Nudeln liegen mir schwer im Magen. Und immer noch die latente Angst, morgen früh mit Schniefnase und Erkältung aufzuwachen. Oder morgen zu versagen. Oder sich zu verletzen. Na das kann ja was werden.

Sonntag, 25.September 2016, Raceday!

Um sechs klingelt der Wecker. Ich bin doch tatsächlich noch mal eingeschlafen. Der Versuch, leise zu sein, ist angesichts des kleinen Vier-Bett-Zimmers und der knarrenden Betten zum Scheitern verurteilt.

Beim Frühstück liegt Energie in der Luft. Alles Läufer um mich herum. Ich stopfe zwei Brötchen mit Schokoaufstrich, etwas Joghurt und zwei Bananen in mich hinein. Weil ich muss, weniger, weil ich ich Appetit habe.

Zurück im Zimmer werden die Rennmontur angelegt, die Oberschenkel mit Vaseline eingerieben und die Gels verpackt. Auf den Läuferbeutel verzichte ich, draussen ist es nicht wirklich kalt. Zum Schluss schreibe ich mir mit dem Edding noch die Kilometer auf den Unterarm, an dem meine Familie stehen will. Wir haben nämlich einen Plan.

Gemahlin und Kinder wünschen mir Glück und ich mache mich auf den Weg. Je dichter man dem Brandenburger Tor kommt, umso größer wird die Karawane der Läufer. Wir müssen am Tor vorbei, um in den Startbereich zu gelangen. Etwas ehrfürchtig schaue ich in Richtung Wahrzeichen und wünsche mir nichts sehnlicher, als in ein paar Stunden hier auf zwei Beinen durch zu laufen.

Kurz vor dem Startbereich treffe ich Sascha, wir kennen uns aus Studienzeiten. Ich muss ein wenig grinsen, denn alle Geschichten zu den langen Schlangen vor den Toilettenhäuschen sind wahr. Zum Glück muss ich diesen Service nicht in Anspruch nehmen.

Die Zweifel sind purer Vorfreude gewichen, ich bin gesund und fit. Die Voraussetzungen stimmen also, um das Ding nach Hause zu bringen.

Als Novize starte ich aus dem letzten Startblock, wie viele andere auch. Wir versuchen, im Block noch ein wenig nach vorne zu gelangen, geben aber bald auf. Ich suche nach den Pace-Makern, doch die, die in unserer Nähe stehen, haben Zeiten auf den Ballons, die mich nicht interessieren. Also muss ich mich auf den Virtual Partner meiner Laufuhr verlassen, den ich auf eine Pace von 5:30 eingestellt habe. Halte ich mit ihm mit, schaffe ich die vier Stunden Marke.

Startblock H

Startblock H

Die Stimmung im Startblock ist super. Die Musik dröhnt und als die Läufer vor uns starten, brandet Applaus auf. Schliesslich sind auch wir in der dritten Welle dran und bewegen uns langsam vor in Richtung Startlinie. Tempo aufnehmen, Startknopf an der Uhr drücken.

Es geht los. Jetzt gilt es!

Das Läuferfeld ist dicht, es ist eng. Ständig muss man aufpassen, dass man nicht über andere Füße stolpert oder anderen ein Bein stellt. Eine Regel habe ich mir besonders zu Herzen genommen – nur nicht zu schnell los laufen. Doch die meisten Läufer um mich herum sind mir eher zu langsam, und ich beginne bereits kurz hinter dem Start einen Läufer nach dem anderen zu überholen. Nach dem ersten Kilometer zeigt sich eine 5:40 auf der Uhr. Es wird Zeit, die geplante Pace von mindestens 5:30 anzulegen. Das gelingt auch für die nächsten Kilometer, dann kommt der erste Getränkestand. Ich habe mir vorgenommen, bei jedem Verpflegungspunkt einen Becher Wasser zu trinken – im Gehen. Ich kann ums Verrecken nicht im Laufschritt aus einem Becher trinken. Zudem will ich alle 10 Kilometer eines der Gels nehmen.

Nach dem Verpflegungsstand pendeln sich die Kilometerzeiten zwischen 5:00 und 5:22 ein. Ich rede mir ein, dass das viel zu schnell ist, habe Schiss vor dem Mann mit dem Hammer und doch kann ich mich nicht wirklich bremsen. Dazu trägt die Stimmung an der Strecke sicherlich seinen Teil bei. Es gibt so gut wie keinen Meter, wo nicht jemand steht und die Läufer anfeuert. Genau so wurde es mir beschrieben und ich geniesse die Atmosphäre sehr.

Berlin, Berlin, wir laufen durch Berlin

Berlin, Berlin, wir laufen durch Berlin

Ich freue mich wie Bolle auf den ersten Treffpunkt mit der Familie, die am Alex warten wollen. Per Whatsapp Notifikation sehe ich auf der Laufuhr „km 11 Kurve 100m rechts“ und halte Ausschau nach den großen roten Herzen, die sie gebastelt haben. Da sind sie! Wir klatschen ab und aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Freund Peter ebenso da ist. Peter ist den Berlin Marathon auch schon gelaufen und hat mit seinen Berichten auch zur Vorfreude beigetragen.

Wahnsinn, wie diese Begegnungen motivieren und ich freue mich schon auf die nächsten Treffpunkte.

Zwischendurch meldet sich das linke Knie. Man wird ja wirklich bekloppt und sieht überall Gespenster. Zum Glück gibt es bald wieder Ruhe. Noch immer mache ich mir Gedanken über die etwas höhere Pace. Auf der anderen Seite wäre das die Geschwindigkeit, um meinem „Geheimziel“ nahe zu kommen. Bei Kilometer 15 entscheide ich, dass es jetzt auch egal ist, von hier an wollte ich das Tempo eh erhöhen, wenn möglich. Also bleibe ich bei Kilometerzeiten unterhalb der 5:25 und in banger Hoffnung, dass der Mann mit dem Hammer mich in der Meute übersieht.

Zwischendurch staune ich über mich selbst, da ich ein wenig die Befürchtung hatte, zu verbissen auf die sub-vier-Stunden aus zu sein, dass ich total vergessen würde, den Lauf zu geniessen. Im Gegenteil, ich klatsche mit Zuschauern ab, geniesse die Musik und für ein Schwätzchen mit anderen Läufern ist auch noch Zeit. Und immer wieder versuche ich Orte wieder zu erkennen, schliesslich habe ich ja mal in Berlin studiert.

Auf Höhe der U-Bahn Station Kleistpark kommt wieder eine Whatsapp. „Hinterm Trommler, rechts“. Häh? Am Trommler bin ich doch gerade vorbei. Die Bestätigung kommt sofort „Mist, verpasst.“ Ich sollte erwähnen, dass die Gemahlin per Garmin LiveTrack über meine aktuelle Position informiert war.

Wir laufen durch Schöneberg, dicht an der Gegend vorbei, wo wir damals gewohnt haben. Peter Fox dröhnt volle Pulle von einem Balkon. Was für eine geniale Stimmung!

An irgendeinem Getränkestand laufe ich vorbei, da ich auf der falschen Strassenseite bin und nicht mehr rechtzeitig rüber komme. Ansonsten halte ich mich an meinen Plan. Regelmässig trinken, ab und zu ein Stück Banane oder Apfel und meine Power Gels. Von den an der Strecke angebotenen Gels und von dem Red Bull lasse ich die Finger.

Bei Kilometer 30 wartet die Familie noch einmal. Unglaublich, wie ich mich über diese Begegnungen freue.

So langsam komme ich in den Bereich, wo die Akkus rapide leer werden könnten. Ja, die Beine sind langsam ein wenig schwer, aber die Pace immer noch gleichmäßig unterhalb der 5:30. Bei Kilometer 35 blitzt die Erkenntnis auf, dass ich noch nie in meinem Leben weiter gelaufen bin. Und noch ein anderer Gedanke setzt sich fest: „Jetzt bringst Du es nach Hause! Was soll jetzt noch passieren?“.

Wieder Whatsapp Nachrichten. Von der Familie: „Kein Wittenbergplatz“ und von Peter: „Super Zeit! Haltungsnote: 10“. Motivation für Nerds.

Kurz vor dem Potsdamer Platz kommt von der Gemahlin die Nachricht: „Durchhalten!“. Verwundert schaue ich auf die Pace, ob ich langsamer geworden bin. Doch davon ist keine Rede. Wir treffen uns das nächste Mal am Potsdamer Platz und klatschen wieder ab. Ein Blick nach links und ich sehe das Brandenburger Tor. Wahnsinn! Es ist nicht mehr weit.

Doch die Strecke schlägt noch ein paar Haken. Das war mir so gar nicht mehr bewusst. Wo ist denn jetzt das Brandenburger Tor? Und wieder eine Kurve und dann noch eine. Ein Getränkestand zeigt sich rechts, ich schaue auf die Uhr. Nix da, die Sekunden lässt Du jetzt hier nicht liegen.

Dann ist es da. Wahnsinn! Whatsapp sagt mir „Vor dem Tor links“. Ich schere aus, sehe die Herzen, höre den Jubel und wir klatschen zum letzten Mal ab. Dann laufe ich durchs Brandenburger Tor. Ich hatte im Vorfeld befürchtet, von Emotionen übermannt zu werden und fest damit gerechnet, mit Tränen in den Augen, durchs Tor zu laufen. Doch nach dem Tor ist vor dem Ziel und da will ich hin.

Und dann ist es geschafft! Mein erster Marathon. In offiziellen 3:53:02 Stunden. Meine Garmin Fenix meint, ich wäre über 43 km gelaufen und zeigt mir eine Marathon Bestzeit von 3:46:36 an. Bin wohl nicht Ideallinie gelaufen. Wie auch immer, offiziell habe ich mein Ziel erfüllt und bin inoffiziell meinem Geheimziel nahe gekommen. Was will man mehr.

Geschafft. Mein erster Marathon

Geschafft. Mein erster Marathon

Und ja, mit Medaille um den Hals im Nachzielbereich wurde es doch ein wenig emotional. All die Vorbereitung, das viele Training, um dann auf den Punkt fit zu werden, um dann bei einem so fantastischen Event wie dem Berlin Marathon zu laufen und anzukommen. Ein Traum!

Nach dem Lauf ging es mir gut. Auch in den nächsten Tagen war da nicht mehr, als ein leichter Muskelkater. Vielleicht habe ich nicht alles gegeben. Doch auch wenn ich eigentlich ein Chaot bin, bin ich in Berlin nach Plan gelaufen und offensichtlich habe ich alles richtig gemacht. Ich hoffe, dass ich dadurch nicht übermütig werde. Beim nächsten Marathon. Denn der wird kommen. Mit Sicherheit!

P.S: Vielen Dank an alle, die mich unterstützt haben! Besonders natürlich an die Gemahlin und meine Kinder, die die Laufeinheiten und die Fachsimpeleien ertragen mussten und mich trotzdem super toll angefeuert habe. Danke an Wulf, Peter, Sascha und alle anderen, die ich mit Laufgeschichten genervt habe. Und natürlich Danke Berlin! Wenn ich darf, komme ich gerne wieder.