Die Endorphine waren bei meinem Marathon Debüt in Berlin im vergangenen Jahr noch nicht ganz abgebaut, da war ich mir schon ziemlich sicher, dass es nicht mein letzter gewesen sein würde. Also habe ich meinen Namen wieder in die Lostrommel geworfen und Ende des Jahres kam schliesslich die e-mail mit der Nachricht: „Du bist dabei!“. Die Reaktion der Gemahlin ist nicht überliefert…
Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wie das Ziel in diesem Jahr aussehen sollte. Ein Sightseeing-Marathon sollte es nicht werden, nach den Erfahrungen aus dem Vorjahr wollte ich schon wissen, ob da „noch mehr drin“ wäre. Natürlich wollte ich meine Zeit vom Debüt unterbieten und die 3:45 endlich knacken. Als Grundlage sollte wieder ein Trainingsplan von Herbert Steffny dienen. Im letzten Jahr musste ich noch vom Trainingsplan mit der Zielzeit 3:30 auf einen Plan mit Zielzeit 3:45 zurückfallen, da ich Mühe hatte, die geforderten Geschwindigkeiten zu erreichen.
Das sah in diesem Jahr anders aus. Der Trainingsplan passte perfekt, er war natürlich manchmal anstrengend, aber durchaus machbar, so dass irgendwann die Zuversicht wuchs. Zudem ist es in diesem Jahr besser gelungen, Urlaub und Training unter einen Hut zu bringen, was der Formkurve deutlich Auftrieb gab. Allerdings verbargen sich in jenem Trainingsplan noch ein paar Brocken, die erst noch abgehakt werden wollten und da hatte ich so meine Zweifel.
Zu diesen Brocken gehörten zweifellos der geplante Test-Halbmarathon mit einer Zielzeit von 1:40 Stunden. Als ich die für diese Zeit nötige Pace ausrechnete, dachte ich, dass an dieser Stelle der Plan und ich nicht mehr zusammen passen würden. Doch es kam anders. Die offizielle Zeit beim Kö-Lauf in Düsseldorf Anfang September blieb für mich bei 1:39:53 stehen. Wahnsinn! Punktlandung. Auch ein paar fiese Intervalltrainings liefen super und das führte schliesslich dazu, dass Zuversicht und Ehrgeiz den Zielzeitkorridor von den geplanten 3:45 in Richtung 3:30 erweiterten. Der letzte lange Lauf war dann auch eine gute viertel Stunde schneller, als im vergangenen Jahr, so dass alle Zeichen auf Angriff standen.
In den letzten Tagen vor dem Marathon schlug die Erkältungsparanoia wieder zu. Panisch hochschauen, wenn die Kollegen anfangen zu niesen. Die hustenden Kinder auf Abstand halten. Dank Twitter weiss ich, dass ich in diesem Zustand nicht alleine war und keinen an der Waffel habe.
Der Samstag vor dem Marathon war in diesem Jahr bestimmt durch den obligatorischen Besuch der Laufmesse und dem Abholen der Startunterlagen, dem Besuch bei Verwandten und einer abendlichen kleinen Pasta-Party mit der Familie und Peter und Sascha, die am nächsten Tag auch mitlaufen wollten.
Beim Frühstück in der Jugendherberge am Raceday war ich ein wenig entspannter, als im vergangenen Jahr, wusste ich doch, was nun auf mich zukommen würde. Von der Jugendherberge am Tiergarten sind es nur ca. 20 Minuten zu Fuß bis zum Startgelände und ich geniesse wie im letzten Jahr, wie sich der Strom an Läufern an jeder Kreuzung verstärkt und sich zunehmend ein internationales Sprachengewirr breit macht. Sogar bayrisch höre ich.
Auf der Wiese vor dem Reichstag warte ich auf Peter und Sascha. Als beide schliesslich da sind, schnacken wir noch ein wenig und die Jungs geben schliesslich ihre Klamottenbeutel ab. Peter und ich haben Startnummern für den Startblock G und machen uns schliesslich auf den Weg – aber offensichtlich zu spät. Wir stehen auf dem Weg zum Startblock im Stau. Nur noch im Tippelschritt geht es voran und die Zeit für den Start rückt näher. Von der Party im Startblock und vom Start der ersten Läufer bekommen wir hier im Wald nur am Rande etwas mit.
Nachdem die ersten Blöcke auf die Strecke geschickt wurden, kommt auch in unseren Stau etwas Bewegung und irgendwann stehen wir auf der Strasse des 17. Juni. Doch ist „unser“ Startblock schon unterwegs, wir sind wohl wieder im Block H gelandet. Egal, wir freuen uns auf den Start und sprechen mit Peter, mit dem ich zusammen laufen wollte, noch mal kurz den Plan ab. Ein oder zwei Kilometer einlaufen und schauen, ob die System auf Grün stehen, dann einen 5:20-ger Pace anlegen und nach hinten raus noch eine Schippe drauf legen. Soweit der Plan.
Der Start für unseren Block erfolgt und der Plan war Geschichte. So schnell habe ich noch nie eine Renntaktik Makulatur werden sehen. Wir laufen los und sind wieder von Anfang an damit beschäftigt, andere Läufer zu überholen. Nichts da mit einlaufen, ich schaue auf die Uhr und sehe eine Pace von 4:45. Mir ist schon klar, dass das eigentlich zu schnell ist und so gar nicht mit unserer Taktik übereinstimmt. Auf der anderen Seite wäre eine solche Pace nötig, um meinem Traum-Ziel näher zu kommen, der 3:30. Nachdem wir auch auf den folgenden Kilometern teilweise deutlich unter den 5 Minuten geblieben sind, versuche ich, uns ein wenig zu bremsen. Doch das gelingt mir nur zum Teil, wir gehen runter auf 4:55, für mein Empfinden immer noch zu schnell, aber halt auf Kurs 3:30.
Bei Kilometer 8 ist der erste Treffpunkt mit der Familie. Von weitem schon sind die roten Herzen zu sehen, die sie schon im vergangen Jahr dabei hatten. Die verabredeten Treffpunkte hatte ich mir mit Kugelschreiber auf den Unterarm geschrieben und die Motivation dieser Treffen sollte mir später noch eine große Hilfe sein.
Bei Kilometer 10 ungefähr merkte ich, dass ich ungewöhnlich viel schwitze und schiebe es auf das hohe Tempo, dass wir nach wie vor an den Tag legen. Erst später erfahre ich von der hohen Luftfeuchtigkeit, die teilweise auch den Profis zu schaffen macht. Immer, wenn ich auf die Uhr schaue, wird mir Himmel, Angst und Bange. Jeder Kilometer unter einer Pace von 5 Minuten. Doch es läuft. Selbst, wenn ich mich bremsen will, gelingt es nur kurz.
Bei Kilometer 16 kommen wir an einem Läufer vorbei, der am Strassenrand reanimiert wird. Oh Mist, das sind die 42 Kilometer doch alles nicht wert. Eine Läuferin vor uns fängt an, zu weinen. Ich hoffe, der Mann hat es geschafft. Zumindest habe ich nicht gehört, dass es in diesem Jahr Todesfälle in Berlin gab.
Wir befinden uns immer noch auf Kurs 3:30 und lassen nur wenig Zeit an den Verpflegungspunkten liegen, einige lassen wir komplett aus. Doch dieses Tempo können wir schliesslich nur bis zum Halbmarathon halten. Circa bei Kilometer 22 merke ich, dass ich das Tempo etwas rausnehmen muss. Schliesslich haben wir die Hälfte der Strecke noch vor uns und ich habe echt Schiss vor dem Mann mit dem Hammer. Zudem plagen mich Seitenstechen.
Das Tempo ist immer noch vergleichsweise hoch, doch nun steuern wir jede Verpflegungsstation an, gehen ein paar Schritte, trinken etwas und essen nach Möglichkeit ein wenig Obst. Wie im letzten Jahr wollte ich alle 10 Kilometer ein Gel nehmen, hatte aber für alle Eventualitäten noch zwei Hydrogels der Geschmacksrichtung „Mojito“ dabei. Quasi als Cocktail, den ich mir gönnen wollte, wenn Motivation oder ein Extra-Schuss Energie nötig sein würde. Diesen Cocktail gönnte ich mir bei Kilometer 25.
Peter lief meistens hinter mir her, bei Überholmanövern oft auch leichtfüssig an mir vorbei. Dieses sich gegenseitig Anspornen hat sicherlich auch einen guten Teil zum hohen Tempo beigetragen. Wir mussten nicht viel absprechen, ein kurzer Blick, eine Geste und schon ging es nach der Trinkpause wieder weiter.
Mit der Familie hatten wir wieder vereinbart, die konkreten Treffpunkte per WhatsApp kundzutun. Allerdings ist die Darstellung auf der Garmin Fenix 5x anders, als ich es von der Fenix 3 gewohnt war. Auf meiner Uhr sah ich nur, dass eine Nachricht reinkam und von wem sie war. Keine Details. Aber diese brauchte ich in diesem Jahr auch nicht. Die drei gebastelten roten Herzen waren dermassen weit zu sehen, dass ich mich frühzeitig auf die richtige Seite schlagen konnte. Teilweise konnte man die Schilder mehrere hundert Meter vorher sehen. Nur einmal stand jemand mit einer knallroten Posaune kurz vor der Familie und sorgte für etwas Verwirrung bei mir.
Wenn ich so an den Lauf zurück denke, bin ich der Meinung, dieses Jahr mehr im Tunnel gewesen zu sein. Ich habe die Musik und die Zuschauer diesmal weniger deutlich wahrgenommen, habe weniger abgeklatscht. Bei einigen Bands sind wir vorbei gelaufen, als diese entweder gerade Pause machten oder die Notenblätter umdrehten. An den Party-Balkon in Schöneberg kann ich mich aber sehr gut erinnern.
Am Potsdamer Platz war wieder ein Treffpunkt mit der Familie verabredet. Als ich näher komme, sehe ich die roten Herzen und davor ein Kamerateam. Offensichtlich wird meine Crew gerade interviewt. Aber hey, auf das Abklatschen will ich aber nicht verzichten und renne mitten durch das Bild. Die Aufnahmen haben es tatsächlich ins Fernsehen geschafft.
Im steten Wechsel zwischen Energie tanken an den Stationen und Motivation tanken bei den Begegnungen mit der Familie ging es dem Ziel näher. Die Seitenstechen hörten irgendwann auf und ich fing an, zu rechnen, ob es mit dem Minimalziel doch noch klappen könnte. Wie gesagt, das Tempo ist eigentlich noch ganz gut, pendelt zwischen 5:05 und 5:30. Nur die Kilometer, an denen besagte Verpflegungspunkte sind, reissen ein Loch in die Tempobilanz. Um die Zielzeit von 3:45 Stunden nicht zu gefährden, lasse ich schliesslich die letzten beiden Stationen liegen und laufe durch.
Aus dem letzten Jahr kenne ich ja nun die Kurvenstrecke kurz vor dem Brandenburger Tor und weiss, dass ich mich noch ein wenig gedulden muss. Und schliesslich kommt es in Sicht. Wahnsinn! Hier muss doch die beste Supportcrew der Welt auch irgendwo stehen. Schon seit ein paar Kilometern mache ich mir Gedanken, ob wir uns denn am Brandenburger Tor wieder sehen würden. Bei einem Fußgänger-Übergang werden die Läufer nämlich mal links und mal rechts um eine Verkehrsinsel vorbeigeleitet. Doch auch hier erkenne ich schon von weitem die roten Herzen. Sie stehen mitten auf der Verkehrsinsel. Geniales Timing! So können wir auch hier vor der grandiosen Kulisse noch einmal abklatschen, bevor es für mich durch das Tor und schliesslich auf die Zielgerade geht.
Die offizielle Uhr bleibt bei 3:43:39 stehen. Ich bin reichlich k.o.. Und ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich mich freuen oder ärgern soll. Denn eigentlich hatte ich mir mehr vorgenommen. Aber hey, wieder einen Marathon gefinisht, fast 10 Minuten schneller als im Vorjahr und auch noch im angekündigten Zeitkorridor. Es gibt nun wirklich keinen Grund, sich zu grämen. Und so werden diese Gedanken beiseite geschoben, wir holen uns die Medaille und schliesslich ein kühles alkoholfreies Paulaner.
Beim Treffpunkt mit der Familie sind endgültig alle Zweifel weggewischt. Ja, wir sind den Marathon zu schnell angegangen, haben aber rechtzeitig genug des Tempo reduziert, um keinen Einbruch zu erleiden. Und bald beginnt ja wieder die Anmeldephase für den 45. Berlin-Marathon. Man könnte es ja noch einmal probieren…