Ich kann gar nicht mehr so genau sagen, wann diese ganze Lauferei so eskalierte. Es scheint gar nicht so lange her zu sein, dass ich mich im Training über den ersten Lauf über 10 Kilometern gefreut habe. Und dann meldet man sich zum ersten Volkslauf an, dann zum nächsten und so weiter. Wenn dann noch Ambitionen hinzu kommen, ist man schnell im Lauf-Universum gefangen.

Mittlerweile würde ich mich als einigermassen erfahrenen Marathonläufer bezeichnen. Der diesjährige Berlin Marathon war mein siebter insgesamt plus zwei Ultras über 50km. Mit der Erfahrung wuchs aber eben auch die Ambition und der Wunsch begann sich zu manifestieren, einmal im Leben einen Marathon in unter 3 Stunden und 30 Minuten zu laufen. 

Der erste Gedanke an die 3:30 blitzte vor zwei Jahren auf, zwar noch schüchtern und nicht wirklich ernst zu nehmend. Aber er war da. Letztes Jahr in Berlin dann ein erster Versuch. Der ging jedoch schief. Zur Hälfte des Wettkampfes war die Luft raus und schliesslich beendete ich den Lauf in nahezu identischer Zeit wie im Vorjahr, wohl wissend, dass die Bestzeit in einem Dixiklo auf der Strecke hängen geblieben war.

Mir war klar, ich musste etwas ändern. Durch den Fat-Boys-Run Podcast bin ich auf Michael-Arend-Training aufmerksam geworden. In einem ersten Telefonat, in dem ich Micha fragte, ob das alles für mich alten Sack noch Sinn machen würde, meinte er nur: “ Wir bekommen Dich schon unter die 3:30!“ Seit dem scheucht mich Coach Kim mit individuellen Trainingsplänen durch die Gegend.

Das mir das Training gut bekam, war schnell zu sehen, als die ersten Bestzeiten purzelten – schneller auf den 50km, schneller auf den 10km. Dennoch blieb der Respekt vor den 3:30, denn ich musste immer an einen Artikel in der Zeit mit dem Titel „Die meisten Leute kotzen bei 3:30h“ denken, den ich mal gelesen hatte.

Es gibt einen entscheidenen Nachteil beim Berlin Marathon – die Vorbereitung findet hauptsächlich im Sommer und damit erstens in der wärmsten Jahreszeit und zweitens während der Urlaubssaison statt. Mit beidem konnte ich mich in diesem Jahr recht gut arrangieren. Allerdings gab es auch zwei, drei Wochen vor dem Lauf einen kleinen Dämpfer, wo ich die geplanten Trainingsläufe nicht so durchziehen konnte, wie geplant. Bei aller Euphorie hat mich dies auch wieder daran erinnert, dass es kein Spaziergang wird. 

Doch diese kleine Trainingsdelle war auch wieder schnell vorüber und die Zuversicht stieg. Sie stieg sogar soweit, dass die Gemahlin in der Woche vor dem Marathon oft nur noch mit den Augen rollte, wenn ich allzu hibbelig und euphorisch wurde. Die Zeichen standen auf Attacke, ich hatte Bock zu ballern, aber auch gehörig Schiss, es zu übertreiben und sprichwörtlich auf der Strecke zu bleiben. 

Für die 3:30 hätte ich eine Pace von 4:59 min/km laufen müssen. Mein Coach Kim hatte eine Zielzeit von 3:25 h anvisiert, was einer Pace von 4:52 min/km entspricht. Und nur in meinen kühnsten Kopfkino-Szenarien stellte ich mir vor, wie es wäre unter 3:20 h zu laufen, denn das wäre die Qualifikation für den Boston Marathon. Davon habe ich aber niemandem erzählt, so absurd klang diese Zeit.

Auf der Marathon Expo am Samstag traf ich mich noch kurz mit Stefan. Wir kennen uns von Strava und er wollte auch mit einer Zielzeit von 3:25 h laufen. Allerdings wolle mit einer Pace von 4:45 min/km anlaufen und dann mal schauen. Das war eine Ansage. Eine Ansage, die mich noch den ganzen restlichen Samstag und die halbe Nacht beschäftigt hat. Kim hatte mir noch ans Herz gelegt, nicht zu schnell zu starten und eher im Bereich 4:50 bis 4:57 min/km zu bleiben.

Raceday

Es ist angerichtet! Um 05:40 Uhr klingelt der Wecker. Das Frühstück in der Jugendherberge nehme ich mit etlichen anderen Läufern ein und überdenke noch mal meine Renntaktik. Zurück auf dem Zimmer, teilte ich der Gemahlin mit, die 4:45 min/km von Stefan wären mir zu schnell und wahrscheinlich würde ich ihn ziehen lassen und alleine laufen.

Nachdem ich Stefan getroffen habe, gehen wir frühzeitig zum Startblock E und haben Glück, denn wir stehen ganz vorne. Zumindest ich geniesse die Stunde vor dem Start im Block mit netten Gesprächen und viel gespannter Vorfreude. Kurz vor dem Start treibt Stefan noch mal ein menschliches Bedürfnis aus dem Startblock und er kommt nicht wieder. Wie er später schreibt, war der Startblock mittlerweile so voll, dass es einfach kein Durchkommen mehr gab.

09:25 Uhr – es geht los. Es scheint eine gute Idee gewesen zu sein, in den Startblock E zu wechseln. Ich habe das Gefühl, alle laufen recht homogen los und es ist auch gar nicht wirklich eng.

Für diesen Lauf hatte ich mir vorgenommen, nur auf den virtuellen Pacer meiner Laufuhr zu schauen. Den virtuellen Freund hatte ich auf eine Pace von 5:00 min/km eingestellt, die Uhr würde mir also meine Durchschnittspace und die Differenz zum virtuellen Laufpartner anzeigen. Für die 3:30 h müsste ich eine Minute Vorsprung und für die Zielzeit von 3:25 entsprechend 6 Minuten Vorsprung rauslaufen.

Und nach einem Kilometer zeigte die Uhr eine Pace von unter 4:45 min/km. Oh Mist, wieder zu schnell am Anfang unterwegs. Kilometer 2, 3 und 4 wurden dann jeweils immer schneller, so dass sich die angezeigte Durchschnittspace bei 4:39 min/km einpendelte. Dann endlich gelang es mir die Pace auf genau diesem Wert festzunageln. Es war klar, dass ich damit deutlich schneller war, als die Vorgabe und auch schneller, als mein eigener Plan. Typischer Fall von „Startschuss und losrennen wie ein geköpftes Huhn“. Aber hey, genau diese Pace fühlte sich gut und richtig an.

Bei Kilometer 9 wollte die Gemahlin und Freund Peter das erste Mal warten. Das Erkennungszeichen war schon von weitem zu sehen und so konnte ich die Armlinge noch abstreifen, die ich übergeben wollte. Apropos Armlinge, das Wetter war bisher perfekt. Die Temperaturen lagen deutlich unter 20 Grad Celsius und der Himmel war bedeckt. Gegen Mittag war Regen angekündigt. Was ich zu der Zeit nicht wusste: Im Lager meiner Supporter vor Ort und derer, die dem Lauf per Tracking-App folgten, war ein wenig Verwirrung ausgebrochen. Die App zeigte eine total langsame Geschwindigkeit an bis hin zu völlig falschen Positionen. Und offensichtlich hatte ich mich so auf die Übergabe der Armlinge fokussiert, dass ich wohl einen angestrengten Gesichtsausdruck präsentierte. Man machte sich Sorgen, dass das Projekt 3:30 vielleicht schon im Ansatz gefährdet sei.

Die Realität sah derweil ganz anders aus. Bei der angelegten Geschwindigkeit fühlte ich mich sauwohl. Nach Absprache mit Kim hatte ich mir noch zusätzliche Gels besorgt und nahm alle 5 Kilometer eines zu mir. Da ich im Moment die Hydrogels bevorzuge, brauchte ich auch nicht allzu viel zu trinken, was sicherlich auch dem Wetter geschuldet war.

Zwei weitere Dinge hatte ich bei diesem Rennen verändert. Zum einen hatte ich mir die Durchgangszeiten für die 3:30 h ausgedruckt und laminiert, um mich nicht nur auf die GPS Uhr verlassen zu müssen. Bei Kilometer 10 holte ich das Kärtchen das erste Mal raus, um zu sehen, ob ich gut m Rennen lag. Zum anderen wollte ich mal ein paar Psycho-Tricks ausprobieren. Immer, wenn die Gedanken in Richtung mir noch bevorstehender Strecke abwandern wollten, hatte ich mir vorgenommen, diese Gedanken nach innen zu kehren und mich auf die Laufbewegung zu fokussieren. Und immer wenn ich dies tat, vermeldete der Körper: „Es läuft rund. Attacke!“.

Es läuft... (Foto: Sportograf.com)
Es läuft… (Foto: Sportograf.com)

Kilometer 16. Der nächste Treffpunkt mit Antje und Peter. Wir klatschen ab und brülle ihnen ein „Ist das geil!“ entgegen. Die Anspannung ist weg. Es scheint wirklich so zu sein, dass ich in der Geschwindigkeit effektiv unterwegs bin. Ich beginne, die Umgebung bewusster wahrzunehmen, applaudiere den Musikern und klatsche mit den Kindern am Strassenrand ab. Ich glaube, ich hatte Spaß!

Halbmarathon. Ein Blick auf das laminierte Kärtchen. Alles im grünen Bereich. Der virtual Pacer auf meiner Uhr zeigt auch einen beruhigenden Vorsprung an. In den vergangenen beiden Jahren musste ich in dieser Phase des Rennens Tempo rausnehmen und auf dem Rest der Strecke teilweise mit zähen Abschnitten kämpfen. Heute läuft es einfach. Und es läuft so gut, dass die markanten Punkte im wahrsten Sinne des Wortes einfach so vorbeifliegen. Wenn es jemals einen Lauf gab, bei dem ich im „Flow“ war, dann war es dieser Wettkampf.

Angesichts des bis dahin für mich schon recht hohen Tempos erschien die Option, einen negativen Split zu laufen, ziemlich aussichtslos. Dennoch verbesserten sich die Kilometerzeiten im Sekundenbereich, so dass am Ende die zweite Hälfte tatsächlich schneller gelaufen sein sollte, als die erste.

Kilometer 27. Die Supportcrew ist mittlerweile um Schwägerin und Schwager angewachsen. Wo sie stehen, ist von weitem zu erkennen, denn das große Pappherz, das die Gemahlin gebastelt hat ist super zu sehen. Sobald ich in die Gegend komme, wo wir uns treffen wollten, halte ich nach dem Herz Ausschau und kann mich rechtzeitig auf die richtige Seite einsortieren. Allerdings sind bei der Pace diese Treffen auch schnell wieder vorbei. Unheimlich motivierend sind sie dennoch, denn besonders der Gemahlin merkt man an, dass sie weiss, dass heute hier etwas gehen kann.

Mittlerweile habe ich die Getränkestrategie etwas geändert. Die Pinkelpause letztes Jahr war mir eine Lehre und dank des Wetters brauche ich heute gar nicht so viel Wasser. Die Hydrogels scheinen zu reichen und so kann ich an recht vielen Verpflegungsständen einfach vorbeilaufen.

Gerade auf dem letzten Abschnitt funktionieren die „Psychotricks“. Immer wenn die Gedanken abschweifen und mir erzählen wollen, das dies nun die Stellen sind, die in den letzten Jahren weh getan und zäh waren, verscheuche ich sie und konzentriere mich auf die aktuellen Sekunden. Mir geht es gut, die Pace deutet bereits einen negativen Split an und der virtuelle Partner der Laufuhr vermeldet einen sehr komfortablen Vorsprung. Was soll also jetzt noch passieren?

Die Anspannung ist weg... (Foto: Sportograf.com)
Die Anspannung ist weg… (Foto: Sportograf.com)

Auch der Potsdamer Platz kommt in diesem Jahr schneller als erwartet. Hier wartet die Supportcrew erneut und sie sind offensichtlich genauso aus dem Häuschen wie ich. Mittlerweile hat es zu regnen angefangen, ich kann gar nicht mehr so genau sagen, wann. Ich weiss nur, dass ich überlegt habe, die Brille bei nächster Gelegenheit zu übergeben, da trotz Schirmmütze Regentropfen ihren Weg auf die Gläser gefunden haben. Aber ansonsten stört der Regen nicht wirklich. Ich bin schon lange auf Betriebstemperatur und die patschnassen Schuhe merkt man irgendwann auch nicht mehr.

Auch der ewige Zickzack nach dem Potsdamer Platz fliegt diesmal nahezu vorbei. Im Grunde kann mir nichts mehr passieren. Selbst humpelnd würde ich die 3:30 h jetzt schaffen. Der virtuelle Laufpartner hängt eine knappe Viertelstunde hinter mir.

Und dann ist sie wieder da – die Strasse unter den Linden und gibt den Blick auf das Brandenburger Tor frei. Selbst beim vierten Mal ist dies ein Anblick, der unheimlich beflügelt. Hier aktiviert wohl jeder Läufer noch mal alle Reserven. Direkt am Brandenburger Tor haben wir wieder Glück. Die Familie steht links – deutlich zu erkennen am roten Herzen – und just als ich vor Ort bin, werden die Läufer links an der Mittelinsel für Fussgänger vorbeigeleitet. Ein letztes Mal abklatschen und dann geht es durchs Tor und schliesslich auf die letzten 400 Meter.

Ziellinie. Laufuhr stoppen. Weitergehen.

Da ich die ganze Zeit nur den virtual Pacer auf dem Display der Laufuhr gesehen habe, wusste ich meine Zielzeit noch nicht. Erst nach dem Durchklicken zur entsprechenden Seite zeigte sich das Ergebnis.

03:17:30 Stunden!

Durchgefroren, aber mega-happy!
Durchgefroren, aber mega-happy!

Ich konnte es nicht fassen. Das war ein Ergebnis, mit dem ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Das war das Rennen meines Lebens. Ein Jahr Vorbereitung trafen auf für mich perfekte Bedingungen.

Doch all die Euphorie, die mich überschwemmte, wurde von einem anderen Gefühl überlagert. Mir wurde kalt. Arschkalt. Als ich mich mit der Familie am Kanzleramt getroffen habe, war nur Zeit für einen kurzen Jubel. Ich habe 4 Leute beschäftigt, mir beim Umziehen zu helfen. Die Hand hat mittlerweile so gezittert, dass das Erdinger Alkoholfrei aus dem Becher zu schwappen drohte.

Auf dem Weg zurück zur Jugendherberge kamen wir noch mit anderen Läufern ins Gespräch und selbst in der Dusche der Jugendherberge konnte man sich noch gegenseitig beglückwünschen und über das Laufen plaudern. Das macht wohl auch die Stimmung beim Berlin Marathon aus.

Vielen Dank an alle Berliner, die trotz des Mistwetters an der Strecke standen und angefeuert haben. Danke an Kim für das Coaching. Und natürlich danke an die Familie für den Support an der Strecke und aus der Ferne und natürlich besonders an meine Kinder und die Gemahlin fürs Mitfiebern und „machen lassen“. Ihr seid die Größten!

P.S.: Eigentlich hatte ich versprochen, mit dem „immer schneller“ beim Marathon aufzuhören, wenn es mit den 3:30 klappen würde. Aber Berlin ist schon toll, zumindest zum Marathon. Und wer weiss, wo die Reise noch so hingehen kann. Mein Name ist jedenfalls wieder im Lostopf für den Berlin Marathon 2020.